Uhr: Die Rationalisierung der Zeit

Uhr: Die Rationalisierung der Zeit
Uhr: Die Rationalisierung der Zeit
 
Die seit der Antike gebräuchlichen Sonnen- und Wasseruhren wurden in Europa im 13. Jahrhundert durch erste mechanische, von Gewichten angetriebene Räderuhren ergänzt. Bei diesen Uhrwerken erfolgte die Gangregulierung durch einen als Waag bezeichneten, horizontal pendelnden Balken und eine sich mitdrehende vertikale Spindel. Ein ausgeklügeltes System von Wellen und Zahnrädern übertrug diese rhythmische Bewegung auf einen Zeiger, der vor ein Zifferblatt montiert war. Dort ließen sich die jeweiligen Stunden von Tag und Nacht ablesen. Bei der Bewegung der Spindel und dem Zahn für Zahn folgenden Weiterdrehen des Räderwerks kam es jedoch aufgrund von Reibung und Verschleiß ständig zu Abweichungen, die pro Tag bis zu einer halben Stunde betragen konnten. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gelang es nicht, diese mechanischen Uhrwerke genauer zu justieren. Sie mussten jeden Tag nachgestellt werden.
 
 Schlagwerkuhren und öffentliche Uhren
 
Eine zusätzliche akustische Zeitangabe boten Uhren mit Schlagwerken. Der italienische Dichter Dante Alighieri betonte 1318 in seiner »Göttlichen Komödie« diese Besonderheit, indem er mit »tin tin sonando« sogar den Klang beim Schlagen beschrieb. 1370 lieferte der französische Chronist Jean Froissart in einem Gedicht über »Die Liebesuhr« die exakte Beschreibung einer solchen Schlagwerkuhr. Die ersten öffentlichen Uhren lassen sich in dieser Zeit bereits in einigen Städten Europas nachweisen. Sie fanden in den meisten Fällen ihren Platz auf Kirch- oder Rathaustürmen, so etwa zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Benediktinerkloster in Erfurt, 1324 in der Abtei St. Albans im englischen Hertford, 1335 an der Kathedrale von Wells in England oder 1336 auf dem Kirchturm von San Gottardo in Mailand. Giovanni de Dondi, Professor der Medizin und der Astronomie in Pavia und Padua, fertigte 1344-64 in Padua eine Planetenuhr, und 1386 gab es auch in der Kathedrale von Salisbury in Südengland eine große Turmuhr mit Glockenschlagwerk.
 
Das kunstvollste Werk dieser Art war zweifellos die 1354 errichtete astronomische Standuhr eines heute unbekannten Meisters im Straßburger Münster. Ihr Gangwerk steuerte bewegliche Figuren der Heiligen Drei Könige, die stündlich Maria mit dem Kind huldigten. Das Schlagwerk trieb ein Glockenspiel. Im französischen Rouen baute 1389 Meister Jehan de Felains die erste Turmuhr, die ein Viertelstundenschlagwerk besaß, wie es auch heute noch üblich ist.
 
Mit den öffentlichen Uhren wurde den Menschen in den Städten die Zeit besser erfahrbar. Zifferblatt und Zeiger der großen Turmuhren ließen sich auch aus größerer Entfernung wahrnehmen. Im Falle einer zusätzlichen Ausstattung der Uhr mit einem Schlagwerk, das meist vom Gangwerk getrennt war, konnte man sogar auf den Sichtkontakt verzichten. Zunehmend regelten diese Uhren nun zentral den täglichen Ablauf des öffentlichen Lebens zwischen Arbeit, Geschäft, sonstigen Verpflichtungen und freier Zeit. Auf dem Lande dagegen blieb die Zeiteinteilung weiterhin ziemlich ungenau. Als zeitliche Orientierungsmarken galten Morgengrauen und abendliche Dämmerung, bei schönem Wetter Aufgang, mittäglicher Höchststand und Untergang der Sonne. An Sonnentagen erlaubte die Sonnenuhr mit ihrem Schattenzeiger eine ungefähre Bestimmung der einzelnen Stunden. Gerade diese Abhängigkeit von der Natur war jedoch mit der mechanischen Räderuhr überwunden. Die meisten der dann seit dem 16. Jahrhundert neu errichteten Dorfkirchen erhielten Schlagwerkuhren. Die damit möglichen, durch Glocken übertragenen Zeitsignale erreichten auch die Bauern bei der Feldarbeit.
 
 Die »persönliche« Zeit
 
An einigen europäischen Fürstenhöfen tauchten im 15. Jahrhundert erstmals Tisch- und Standuhren auf, bei denen die Uhrmacher ein neues Antriebsprinzip umgesetzt hatten. Statt der Gewichte sorgte nun eine spannbare Feder für die regelmäßige Bewegung des als Unruhe dienenden Waagbalkens. Als älteste erhaltene Uhr dieser Art gilt eine Standuhr Herzog Philipps des Guten von Burgund, die 1429-35 vom Uhrmacher Pierre Lombart aus Mons und dem Goldschmied Jehan Pentin aus Brügge gebaut wurde. Ihre Federzugmechanik lässt sich als direkter Vorläufer des Antriebs für die mehr als 70 Jahre später entwickelten ersten Taschenuhren bezeichnen. Sie sind mit dem Namen des Nürnberger Mechanikers Peter Henlein verbunden. Seine »erfinderische« Leistung lag in einer Miniaturisierung der herkömmlichen Tischuhren. Er konstruierte kleine Uhrwerke mit Stundenschlag, die von einer Feder angetrieben wurden und 40 Stunden liefen. Eine wesentliche Verbesserung der Ganggenauigkeit und eine geringere Abnutzung der Waag erreichte Henlein durch den Einbau von zwei elastischen Schweinsborsten als Anschlag für die Enden des Waagbalkens. Die fertigen Werke montierte er in kleine zylindrische Dosen in Größe der damals üblichen Pillenschachteln. Damit konnte man sie als Sack- oder Taschenuhren bequem mit sich führen.
 
Der Antrieb des Werks durch eine Feder bildete die entscheidende Voraussetzung für die Handlichkeit der Taschenuhren. Sie waren damit nicht mehr von der Schwerkraft abhängig wie eine Uhr mit Gewichten und konnten in allen drei räumlichen Dimensionen bewegt werden, was eine Gewichtsuhr sofort zum Stillstand gebracht hätte. Als nachteilig erwies sich allerdings die Ungleichmäßigkeit des Federantriebs. Je stärker die Feder aufgezogen war, umso schneller lief die Uhr, und je länger sie lief, umso schwächer wurde die Zugkraft der Feder und entsprechend langsamer der Gang. Bei einer Lösung dieses Problems ging es vor allem darum, die Antriebskraft konstant zu halten. Das gelang mit der für das Jahr 1539 erstmals belegten Schnecke. Dabei handelte es sich um einen Kegelstumpf mit einer spiralförmigen Nut, in der beim Aufziehen der Feder eine mit dem anderen Ende an der Federtrommel befestigte Schnur aufgewickelt wurde. Diese Konstruktion garantierte eine starke Kraft bei kleinem Radius und eine entsprechend geringe Kraft bei großem Radius, wodurch die mit der Zeit nachlassende Federkraft zugunsten eines konstanten Drehmoments einigermaßen ausgeglichen werden konnte. Dennoch gingen solche Uhren in zwölf Stunden etwa 20 Minuten vor oder nach. Diese Ungenauigkeit wurde erst 1674 von dem niederländischen Physiker, Mathematiker und Astronomen Christiaan Huygens behoben, als er Henleins Prinzip der Spindelhemmung mit Schweinsborsten durch eine von ihm entwickelte Spiralfederunruhe ersetzte. Dieser noch erheblich kleinere Typ von Taschenuhren erlaubte aufgrund der Ganggenauigkeit jetzt auch die Verwendung von Minutenzeigern.
 
Zu den bekanntesten Taschenuhren des 16. Jahrhunderts zählten die seit 1540 immer mehr verbreiteten Nürnberger Eierlein, die an einer Schnur um den Hals getragen wurden und oft tatsächlich Eiform aufwiesen, ihren Namen jedoch einem sprachlichen Missverständnis verdankten: Vom lateinischen hora für Stunde abgeleitet, bezeichnete man sie zunächst als »hörlein« oder »ührlein«, woraus letztlich Eierlein wurde. Ihre bronzenen, silbernen und teilweise auch vergoldeten Gehäuse waren oft mit feinen Gravuren oder durchbrochenen Reliefdarstellungen kunstvoll verziert. Die stolzen Besitzer trugen daher die praktischen Zeitmesser auch als Schmuckstücke.
 
Die Menschen des Mittelalters hatten in ihrem weitgehend von der Natur bestimmten Lebensablauf keine auf Minuten exakte Zeitmessung benötigt. Im Übergang zur Neuzeit entdeckte man dagegen die Welt neu. Beobachten und Messen natürlicher Abläufe mithilfe von eigens dazu entwickelten Instrumenten bildeten dabei die wichtigsten Schritte auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen. Hierzu zählte auch eine genauere Bestimmung der Zeit. Die großen öffentlichen Uhren schufen einen definierten Zeitrahmen. Mit der Taschenuhr wurde die Zeitmessung personalisiert. Der Besitzer einer solchen Uhr war unabhängig von der zentralen Zeitangabe, die er nur ab und zu als Anhalt benötigte. Er hatte für seinen eigenen Tagesablauf seine zeitliche Orientierung stets verfügbar.
 
Prof. Dr. Volker Schmidtchen

Universal-Lexikon. 2012.

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